Digitalisierung: neue „Möglichkeitsräume“ oder „frauenfeindliche Revolution“?

Die Diskussion zum Thema Digitalisierung und Gender nimmt Fahrt auf. Bei aller Ambivalenz der Einschätzungen sind sich die Diskutierenden einig: Gerade weil es sich um – noch – offene Prozesse mit offenem Ausgang handelt, gilt es sich einzumischen und diese unter Gender- und Diversitätsaspekten zu besetzen.

„Möglichkeitsräume“ für mehr Geschlechtergerechtigkeit und Risiken der digitalen Arbeitswelt der Zukunft mit Schwerpunkt Forschung und Entwicklung/Frauenkarrieren in IT und Ingenieurwesen war Thema eines im Frühjahr des Jahres abgeschlossenen Projektes von ISF München und FAU Erlangen-Nürnberg (www.frauen-in-karriere.de). Hierzu liegt nun eine anschauliche Handlungsbroschüre vor (Frauen in der digitalen Arbeitswelt von morgen). Chancen und Risiken der Digitalisierung war ebenfalls Thema der Dritten DIW- und FES-Gender Studies Tagung ARBEIT 4.0 – BLIND SPOT GENDER in Berlin. Die Arbeiterkammer Salzburg startet eine ganze Veranstaltungsreihe zum Thema.

Die Chancen

Die Abkehr von typisch männlichen, ausschließlich technisch geprägten Berufsbildern und verstärkt gefragte Skills wie kaufmännisches Know-how oder Koordinations- und Kommunikationstalent erhöhen die Attraktivität und Karriere-Chancen für Frauen insbesondere in MINT-Berufen.

Digitalisierungsprozesse bedingen einen radikalen Wandel der Arbeits- und Führungskulturen, die die Lösung von zahlreichen Problemen am Arbeitsmarkt (gender pay gap, representation gap etc.; Wrohlich) und in der Gesellschaft unterstützen können:

Flexible „Raumzeiten“, die Abkehr von Präsenzzeiten und das Auflösen festgefahrener Karrieremechanismen öffnen neue Wege zur „Life-Career“ (Bultemeier/Marrs) bis hin zu neuen Optionen der Um- und Neuverteilung von bezahlter, aber auch von unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern (Buchinger).

Netzwerk-Kulturen mit flachen Hierarchien erfordern neue kooperative Leitbilder für Führungskräfte. Monokulturen sind out, auch für Führungsebenen.

Chancen gibt es nicht nur für Hochqualifizierte:

„… einfachere Tätigkeiten bzw. Routinearbeiten – und dies nicht nur in der Produktion, sondern besonders in Verwaltung und im Bereich der Dienstleistungen – (werden) mehr und mehr automatisiert werden. Einerseits kann dies für die Beschäftigten positive Effekte zur Folge haben: Neben dem Wegfall gefährlicher beziehungsweise körperlich oder aufgrund von Routinearbeit mental anstrengender Arbeiten könnte eine Anreicherung der beruflichen Bereiche durch nicht automatisierbare Tätigkeiten erfolgen. Damit eröffnet sich ein großes Potenzial für größere Selbstbestimmung in der Arbeitswelt, etwa durch eine größere Zeit- und Arbeitsortsouveränität oder durch mehr Verantwortung.“ (Buchinger)

Die Risiken

Bringt Digitalisierung nur Arbeits-und Karrieremöglichkeiten für Hochqualifizierte?

Bleibt für die große Mehrheit der Übrig-Bleibenden nur noch die Option eines bedingungslosen Grundeinkommens? Oder eines neuen, mit der Ausweitung von Crowdworking und digitaler Taylorisierung einhergehenden Prekariats? Oder eines, den Digitalisierungs-GewinnerInnen den Rücken frei haltenden und über zwielichtige Online-Portale organisierten ebenfalls prekären Putzjobs?

Die Top 10 der durch Digitalisierung voraussichtlich gefährdeten Berufe werden in Deutschland zu 80 Prozent von Frauen ausgeübt. Auch wenn bei den Top 10 der eher ungefährdeten Berufe zwei „Frauenberufe“ – Krankenpflegerin oder Erzieherin – an der Spitze stehen, wird sich damit die Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern noch vergrößern: Denn der Gender Pay Gap ist hier im Vergleich zu anderen Berufsfeldern am höchsten (SZ 27.09.2016 Frauenfeindliche Revolution).

Neben den Gefahren der Entgrenzung und neuer Präsenzkulturen bei mobilen Arbeitsformen zeigen sich bereits altbekannte Diskriminierungsmechanismen. Jüngste Studien ergeben, dass Flexibilisierung und selbst bestimmte Arbeitszeiten bei Männern zu einer Erhöhung des Einkommens führen, bei Frauen nicht (vgl. auch SPIEGEL 05.09.2016).

Last not least, ist der Zug nicht schon abgefahren, denn: „Wir laufen im Moment Gefahr, dass dort, wo die Digitalisierung am weitesten fortgeschritten ist, eine neue Arbeitswelt entsteht, in der Frauen keinen Platz haben.“ (Bultemeier)

Das Fazit

Das Eröffnen von „Möglichkeitsräumen“ ist kein Selbstläufer: „Es gilt Chancen, aber auch negative Folgen, die für Frauen entstehen, aktiv einzublenden und zum integralen Bestandteil des Veränderungsprozesses zu machen.“ (Marrs)

Vielfalt ist die Voraussetzung, um Digitalisierungsprozesse erfolgreich zu gestalten. Damit es gelingt, ist in dieses Leitbild die Frage von Geschlechter- und Diversitätsgerechtigkeit und Guter digitaler Arbeit von Anfang an mit einzuschließen. Damit es gelingt, braucht es weiter in allen Prozessen einen kontinuierlichen Gender- und Diversityblick (mainstreaming), begleitet von Empowerment-Maßnahmen, von Weiterbildungs-Initiativen bis hin zu Quoten.

Auf geht’s zum Einmischen für eine geglückte Revolution!

Veröffentlichungen zum Thema

Frau geht vor (DGB 03/2015): Wie weiblich ist die Arbeit der Zukunft? Chancen und Risiken der Digitalisierung für Frauen

Bultemeier, Anja; Marrs, Kira (Hrsg.) (2016): Frauen in der digitalen Arbeitswelt von morgen. München (Handlungsbroschüre)

ARBEIT 4.0 – BLIND SPOT GENDER (Tagungsbeiträge 3. Gender Studies Tagung DIW 2016)

von Bullion, Constanze (SZ 27.09.2016): Frauenfeindliche Revolution

Buchinger, Birgit (2016): „Skizzen zu Arbeit und Altern: Prognosen, Mythen und Gestaltungsräume“– Revisited unter den Vorzeichen von Arbeit 4.0 (Aufsatz erscheint in Kürze in AMS report „Arbeit und Altern“ – Hrsg. Arbeitsmarktservice Österreich); Präsentation Arbeiten im digitalen Net(z) – Gefahr oder Chance. Input im Rahmen der Reihe „Arbeitswelten 2030. Heute für ein gutes Morgen sorgen.“ Arbeiterkammer Salzburg 28.04.2016

Nächste Veranstaltungen

Digitalisierte Arbeit und analoger Alltag – Wie gestalten Männer ihre Arbeit und ihr Leben morgen? (Aktionsforum Männer und Leben)

9. November 2016, 9 bis 17 Uhr, Veranstaltungsort: Hessischer Rundfunk, Frankfurt a.M.

Weitere Informationen und Anmeldung www.impulstagung.de

DIALOG: 4.0 Gutes Arbeiten und Leben im digitalen Zeitalter (Veranstaltungsreihe Arbeiterkammer Salzburg)

10. Oktober und 17. November 2016, 24. Jänner und 20. Februar 2017

Weitere Informationen www.ak-salzburg.at/dialog_im_digitalen_zeitalter

 

 

4 Kommentare zu Digitalisierung: neue „Möglichkeitsräume“ oder „frauenfeindliche Revolution“?

  1. Aus meiner Sicht bringt die Digitalisierung mehr Chancen als Risiken und das mit der Frauenfeindlichkeit ist mir zumindest noch nicht untergekommen – im Gegenteil, ich sehe sogar Chancen für Frauen, die vorher nicht da waren!

    1. Sehr geehrter Herr Stöger,
      der Sommerpause geschuldet kann ich Ihnen erst jetzt auf Ihren Kommentar antworten. Herzlichen Dank für Ihr Verständnis wie auch für Ihre Überlegungen.

      Es ging mir in meinem Beitrag nicht darum, der Digitalisierung per se frauenfeindliche Absichten zu unterstellen. Die Überschrift war als journalistische Überspitzung zweier gegensätzlicher Positionen gedacht, um deren differenzierte Betrachtung es mir ja gerade geht. Insbesondere geht es mir darum auch bei den – noch offenen und deshalb mit Vehemenz sich einzumischenden – Digitalisierungs-Prozessen Frauen und Männer in unterschiedlichen Arbeits- und Lebenssituationen verstärkt in den Blick zu nehmen, um sie nicht nur in all ihrer Widersprüchlichkeit zu sehen, sondern auch darüber zu mehr Gerechtigkeit zu kommen.

      Chancen für Frauen sehe auch ich. Sei es beim Thema Vereinbarkeit Beruf und Privatleben durch die flexible Gestaltung von Arbeitszeiten und –orten, eine Chance nicht nur für Frauen sondern auch für eine bessere partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit von Frauen und Männern. Umgekehrt heißt es aber auch, dass ArbeitehmerInnen befähigt werden müssen, den damit einhergehenden Entgrenzungsgefahren von Arbeit besser begegnen zu können. Apropos: eine jüngst erschienene Studie der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema Entgrenzung ergab, dass Frauen mit deren Gefahren besser umgehen können als Männer, nicht aufgrund ihrer Gene, sondern weil zumindest Frauen mit Familienverantwortung mehr Erfahrungen mit dem ‚Abschalten’ haben (Den Männern fällt das Abschalten schwerer FAZ 15.08.2017).

      Auch der Abbau von Hierarchien und Hinwendung nicht nur zu vernetzterem Denken sondern auch Handeln und eine damit verbundene größere Durchlässigkeit der Ebenen könnte für Frauen eine Chance bedeuten. Aber dies ist ebenfalls kein Selbstläufer, denn das wissen wir auch, dass Frauen in informellen EntscheiderInnen-Netzen in Unternehmen immer noch weniger als Männer zu finden sind.

      Die Frage ist auch, welche Tätigkeitsbereiche besonders von den Folgen der Digitalisierung negativ betroffen sein werden. Hier gehen die Meinungen auseinander. Als erstes fällt vielen in diesem Zusammenhang der männliche weiße Industriearbeiter ein, nicht zuletzt aufgrund der Trumpwahl. (Catherine Hoffmann Die Industrie stirbt SZ 11.08.2017). Dass aber in der Industrie auch Verwaltungstätigkeiten, die nach wie vor überwiegend von Frauen ausgeführt werden, unter den Folgen der Digitalisierung ebenfalls leiden könnten, sei es durch Arbeitsplatzverlust oder auch durch Entleerung der Arbeitsinhalte – auch das ist ein mögliches Szenario. (Dass es zu einer Anreicherung kommen könnte, ist nun wieder ein anderes, aber auch durchaus mögliches Szenario. Dies zu einer Chance für Beschäftigte zu machen, wird jedoch ebenfalls kein Selbstläufer sein, sondern präventive Qualifizierungsmaßnahmen erfordern.)

      Verwaltungs- und Sekretariatsberufe wie auch Verkaufsberufe stehen an der Spitze der Top-Ten-Liste der gefährdeten Berufe. Umgekehrt stehen ebenfalls zwei Frauendomänen, Kinderbetreuung und –erziehung wie Gesundheits- und Krankenpflege an der Spitze der Top-Ten-Liste der ungefährdeten Berufe (Dr. Markus M. Grabka Genderspezifische Verteilungseffekte der Digitalisierung DIW-Tagung Berlin 22.09.2016).

      Eine weitere Chance der Digitalisierung für Frauen können Algorithmen darstellen. Sie könnten helfen, objektiver, ohne Ansehen der Person, zum Beispiel bei Verfahren der Personalauswahl, zu verfahren. Nur: Software wird von Menschen gemacht. Hier können Geschlechterstereotype also genauso eingeschrieben werden wie generell Vorurteile gegenüber ‚Andersartigen’ zum Beispiel gegenüber Schwarzen. Im Harvard-Business Manager erschien dazu im Juni ein interessanter Artikel zur Gefahr der Diskriminierung nach Hautfarbe und Geschlecht beim E-Commerce wie auch bei Einstellungsverfahren wie ein weiterer Artikel in der Süddeutschen Zeitung Anfang 2016 (Ray Fisman und Michael Luca Wenn der Algorithmus diskriminiert HMB Juni 2017, und Sara Weber Wenn Algorithmen Vorurteile haben SZ 15.01.2016).

      Es gibt also ein großes Für und Wider. Es geht mir nicht darum, Horroszenarien zu entwickeln sondern von Anfang an bei allen Analysen und daraus abgeleiteten Maßnahmen die Geschlechter- und Diversitätsbrille aufzusetzen und sich auch unter diesen Aspekten in die noch offenen Prozesse einzumischen, damit die digitale Revolution zur Chance für alle wird.

      Sollte ich bei Ihnen weiteres Interesse für dieses Thema geweckt haben, kann ich Ihnen noch einen interessanten Aufsatz zweier Forscherinnen der Sozialforschungsstelle der Universität Dortmund empfehlen, der die diversen Aspekte der Digitalisierung unter verschiedensten Gender- und Diversitätsaspekten dekliniert und auch offene Fragestellungen benennt (Edelgard Kutzner, Victoria Schnier Geschlechterverhältnisse in Digitalisierungsprozessen von Arbeit Zeitschrift ARBEIT 2017)

  2. … Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, schreibt Musil im Mann ohne Eigenschaften, dann muss es auch einen Möglichkeitssinn geben. Der Möglichkeitssinn zielt auf das, was nicht ist, aber ebenso gut sein könnte. Als Sinn für mögliche Wirklichkeiten verhält er sich zum Wirklichkeitssinn, dem Sinn für wirkliche Möglichkeiten, quasi spiegelverkehrt. Denn im gleichen Maße, wie die Wirklichkeit Möglichkeiten weckt, können eben auch aus Möglichkeiten Wirklichkeiten erwachsen.

    1. Lieber Hans-Georg Nelles, vielen Dank für die Erweiterung der Marrs’schen „Möglichkeitsräume“ um das Musilsche Konzept des „Möglichkeitssinns“. Das macht Mut, Zukunft zu gestalten!

Schreibe einen Kommentar zu Hans-Georg Nelles Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.